Der Fachblog für CE-Kennzeichnung

Normen als Buch? Echt jetzt?

Erstellt von Jörg Handwerk am 09.03.22 10:00

Ich sehe es schon von Weitem, wenn der Briefkastenschlitz wieder offen steht und ich freue mich. Hurra, die Norm aus Berlin ist da! Danke, lieber Verlag, dass meine online bestellte Norm endlich nach zehn Tagen in Bremen eingetroffen ist. Und jetzt?

 

Seitdem ich in der Maschinensicherheit-Branche unterwegs bin, erzähle ich überall - egal, ob man es hören will oder nicht -, dass ich es, gelinde gesagt, schwierig finde, wie die europäische Rechtsprechung so funktionieren soll. Dass unter Beteiligung vieler nationaler Stellen und Verbände in der Europäischen Kommission Richtlinien erlassen werden, die alle Mitgliedsstaaten wiederum in eigene Gesetze gießen müssen, hat historische Gründe. Dass in diesen Richtlinien allgemeine Anforderungen formuliert sind, hilft da nur bedingt. Aber dass wir uns die Informationen über die Ausführung dieser allgemeinen Anforderungen dann teuer bei Normungsinstituten kaufen müssen, ist für mein Verständnis nicht der richtige Weg.

 

Kollaborieren und Netzwerken

Man kann heutzutage unmöglich alles beherrschen. Wie sagt mein Schwiegervater immer? Man kann ja noch so dumm sein, man muss sich nur zu helfen wissen. Genau! Du musst wissen, wen du fragen kannst, um Antworten zu bekommen oder du musst wissen, wo die passende Information zu finden ist. Das ist leider in der Normung nicht so einfach. Denn selbst wenn ich es wüsste, ich darf mein Wissen ja nicht ohne Weiteres teilen, weil es ja geschützte Dokumente sind, auf denen immer ganz groß und deutlich das Copyright-Zeichen prangt und schließlich möchte ich mich nicht strafbar machen. Selbst kleinste Passagen als Screenshot weiterzugeben, ist schon fast ein Todesurteil.
Wir sind alle von der Pandemie gebeutelt und kämpfen mit deren Auswirkungen auf Gesundheit und Arbeitsschutz. Homeoffice-Pflicht ist eine gute Sache. Alle haben sich mehr oder weniger daran gewöhnt, von zu Hause zwischen Bauklötzen, Kindergezanke und Hundegebell zu arbeiten. Wer das nicht kann, hat einen Grund, trotzdem ins Büro zu fahren, sofern Abstand & Co eingehalten werden. Aber der Grund “Ich muss ins Büro, weil da mein Schrank mit den Normen steht”, ist einfach nicht akzeptabel.

 

Wer suchet, der findet - Teil 1

Ich sitze wirklich gern zu Hause oder sonst wo in einer ruhigen Ecke und schmökere in einem guten Buch. Es entspannt und inspiriert mich. Wenn ich aber schnell an Informationen kommen möchte, weil Zeit ja bekanntlich in Geld aufzuwiegen ist, dann machen mich manche Dinge einfach sauer. Wie schön war die Zeit, als ich mein Content-Management-System mit einem Schlagwort füttern und binnen Millisekunden Ergebnisse über Fundstellen auf dem Bildschirm hatte. Zwei, drei Klicks und ich fand, was ich gesucht habe. Heute ist das leider nicht mehr so einfach. Ich sitze daheim auf meinem Sofa, den Laptop auf den Knien und grübele bei meiner Risikobeurteilung über die richtige Ausführung einer Zweihandbedienung nach. Mit Klicken komme ich nicht weiter, also packe ich ein, schnalle meinen Rucksack auf, hole mein Rad aus dem Keller und fahre gute vier Kilometer an der Weser entlang in die Überseestadt von Bremen, wo sich unser Büro befindet. Ich hole mir einen Kaffee und hocke mich vor unseren Normenschrank, wo sich hübsch aufgereiht die weißen Bücher des Verlags gemütlich aneinander lehnen. Ein Handgriff, und die Suche beginnt. Nach fünf Minuten steigt Wut in mir auf, denn es gibt eine Lücke. Eine Lücke, in der die von mir so dringend gebrauchte Norm hätte stehen sollen. Shit! Und jetzt? Ich renne durch das Pandemie-bedingt quasi verwaiste Büro von Schreibtisch zu Schreibtisch und suche nach einem DIN A4 großen Buch in Weiß mit schwarzer Schrift. Nichts. Also klappe ich den Rechner auf und schreibe in unseren Unternehmens-Chat, ob jemand die von mir gesuchte Norm aus Versehen mit nach Hause genommen hat. Unser Bachelorand meldet sich kleinlaut und ich stelle mir die Frage, ob er das überhaupt hätte machen dürfen? Ist ja schließlich ein Copyright drauf …

Was jetzt? Ich vertröste meinen Kunden, dass es mit der Risikobeurteilung ein wenig länger dauern wird? Die Normenrecherche würde erheblich umfangreicher werden als gedacht und so müsse er ggf. mit Mehrkosten rechnen? Lieber Verlag: Ist das euer neues Verständnis von Normenrecherche? Ich recherchiere nicht, weil mir das Recherchieren so viel Spaß macht. Was ich brauche, sind Antworten, und zwar schnell! Und diese stehen leider oft in Normen.

 

Wer suchet, der findet - Teil 2

Wie sagte mein Schwiegervater? Aber das erwähnte ich ja bereits. Genau, das Ding mit dem “man muss sich halt zu helfen wissen”. Man darf zwar Normen nicht vervielfältigen, aber darf man Printmedien durch Digitale ersetzen? Also scannen wir doch die Normen einfach ein. Da macht es einem besagter Verlag aber auch wirklich schwer. Es sind schließlich extra Löcher in die Norm gestanzt worden, damit man sie hübsch und einfach abheften kann, aber sie auseinandernehmen und einscannen? Seite für Seite ginge das natürlich, aber was das kostet? Am Ende mehr als die ganze Norm. Und was ich dann immer noch nicht könnte, wäre eine Volltextsuche, denn Zeit ist ja auch Geld. Hatten wir ja auch schon. Also muss ich lesen, ob ich will oder nicht. Und da ich schneller klicke und Suchbegriffe eingebe, um zum Ergebnis zu kommen, dauert das Auffinden der passenden Textpassage mal eben anstatt zwei Minuten, zwei Stunden. Doch was schert das den Verlag? Er hat schließlich sein Geld für die Norm bekommen. Dass es für den Rest am Ende der Normen-Nahrungskette nicht so toll läuft, scheint in Berlin aber keinen zu interessieren.

 

Der Umwelt zuliebe

Es ist bekannt, das Streaming & Co ziemliche Energiefresser sind. Rechenzentren brauchen Strom. Es gibt aber auch grüne Varianten davon und auch die Energiegewinnung mit BHKW in Privathaushalten, Wind und Sonne wird immer besser. Besagter Verlag ist aber schließlich ein Verlag und kein Betreiber eines Rechenzentrums - schade eigentlich. Mir kommt die Vermutung, dass der Verlag Besuch hatte von der Logistik- oder Papierbranche, denn da liegen die, die sich freuen, dass sie endlich mehr Papier liefern und somit auch durch die Welt fahren dürfen. Danke, lieber Verlag. Ein Siegel für Umweltfreundlichkeit auf der Norm führt das Ganze dann noch ins Absurde.

 

Für mehr Sicherheit

Die Brüsseler Kommission erwähnte ich bereits. Sie machen es einem nicht leicht, aber was in der Normung passiert, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Wozu führen lange Wartezeiten auf Normen, aufwendigeres Recherchieren durch viel Lesen müssen? Vom Preis für Normen will ich gar nicht erst reden! In den Zeiten, als besagter Verlag seine Normen zum Download bereitstellte, hat sich so mancher schon über die jährlichen Kosten geärgert. Es gab deshalb auch einige - und ich rede aus jahrelanger Erfahrung - die diese Kosten gern vermeiden und somit ihre Produkte so bauen, wie sie es immer taten - ohne je einen Blick in eine Norm geworfen zu haben. Nach dem Motto “Ist noch nie was passiert” wurde und wird Sicherheit für den Anwender dieser Produkte mit Füßen getreten. Heute kostet diese Information - sprich Normen - nicht nur Geld, sondern lange Wartezeit und auch die Bearbeitung dauert ein Vielfaches länger. Ob das der Schritt in die richtige Richtung zu mehr Sicherheit und Verbraucherschutz ist, möchte ich zumindest ganz klar infrage stellen.
Das oberste Ziel scheint dem Verlag die Gewinnmaximierung zu sein, nicht aber zugeschnittene, einfach für den Nutzer erhältliche Information zu liefern. Werfen wir einen Blick in die Tagespresse, so gibt es kaum eine Zeitschrift, die mittlerweile nicht als online-Medium zur Verfügung steht, was in Zeiten von Big Data, Industrie 4.0 und Digitalisierung auch absolut notwendig ist. Ok, ich kann meinem Nachbarn die Süddeutsche Zeitung, FAZ oder den WESER-KURIER geben, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden, aber ist nicht Verbreitung von Wissen eher ein Ziel, als sich die Taschen vollzumachen?

Ich freue mich auf die Zeit, wenn ich, wie es prophezeit wird, all diese Informationen, die ich zum Herstellen sicherer Produkte benötige, per Klick oder unterstützt von Machine-Learning, digitalen Zwillingen usw. in Sekundenschnelle und kostenfrei zur Verfügung haben werde. Bis es so weit ist, werde ich mich nach einem anderen Lieferanten als diesem Verlag umsehen, bei dem die Beschaffung reibungslos und online funktioniert und schau mal nach Süden, in ein Land für Wanderfreunde, die auch ein Normeninstitut haben und, man glaubt es manchmal nicht, auch Deutsch sprechen.

Habe die Ehre,
euer Jörg Handwerk

Anmerkung des Autors: Die in diesem Blogartikel beschriebenen Situationen sind frei erfunden.

 

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Themen: Technische Dokumentation, Richtlinien und Normen

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